Mythos Kaventsmann (Teil 2)


Monsterwellen sind außerhalb der Norm. Das gilt sowohl für die Wellenhöhe, aber auch für die Häufigkeit des Auftretens. Denn so selten ist das Extrem-Phänomen gar nicht.


Nach der Messung der Draupner Welle im Jahre 1995 wurde die Forschung im Bereich der Monsterwellen deutlich ausgeweitet. Das Projekt MAXWAVE unter der Leitung des GKSS Forschungszentrums Geesthacht bei Hamburg hat durch gezielte Radar- und Satellitenmessungen Überraschendes festgestellt. Das seltene Phänomen ist gar nicht so selten wie es sein sollte. Höchste Zeit also der Entstehung von Monsterwellen näher auf den Grund zu gehen.

Zunächst nahm man in der Strömungstheorie an, dass längere und damit schnellere Wellen kürzere, langsame Wellen einholen und sich dann Überlagern. Die Überlagerung von Wellen wird in der Physik auch als Interferenz bezeichnet. Geht man von der Interferenztheorie zur Bildung von Monsterwellen aus, ist gemäß der Gauß?schen Normalverteilung, das Auftreten extremer Wellen sehr unwahrscheinlich. Die Natur machte der Theorie jedoch einen Strich durch die Rechnung.
Am 1. November 2006 zog Sturm "Britta" über die Nordsee. Mit nordwestlicher Strömung peitschten Orkanböen über das tosende Meer und türmten die Wellen in der Deutschen Bucht etwa elf Meter hoch auf. Gegen 5 Uhr morgens traf dann ein 15 Meter hoher Kaventsmann auf die Forschungsplattform Fino-1. Nach der Interferenztheorie dürfte eine solche Riesenwelle dort nur einmal in 100 Jahren auftreten. Aber nur ein Jahr später, am 9. November 2007, wühlte Sturmtief "Tilo" die See in der Deutschen Bucht auf und setzte mit einer ähnlich großen Welle Fino-1 erneut schwer zu. Es muss demnach abseits von Interferenzen noch andere Effekte geben, die diese Wellen dazu befähigte so hoch anzuwachsen und ihre Energie zu fokussieren. Ein Erklärungsansatz findet sich in der Natur von größeren Meeresströmungen wie dem Golfstrom. Dort können Wellen gebündelt werden wie das Licht in einem Brennglas. Desweiteren können sich durch einen der Meeresströmung entgegengesetzten Sturm, wie es z. B. häufiger vor der Küste Südafrikas oder um Kap Hoorn vorkommt, die Wellen extrem aufsteilen. Eine dritte Ursache liegt in der Topographie des Meeresbodens. Durch plötzliche Abnahme der Wassertiefe kommt es zu Turbulenzen in der Strömung. Wellenberge bewegen sich entgegen der allgemeinen Wellenrichtung und türmen sich dabei auf. Auch bei Kreuzsee, wenn Dünung und Windsee aus verschiedener Richtung aufeinanderprallen, wurden Monsterwellen häufiger beobachtet.

In der Monsterwellenwelt bleiben die Giganten der Meere also nicht lange alleine. Im Herbst 2020 kam es gleich zu zwei neuen Rekorden. An der portugiesischen Atlantikküste bei Nazaré, einem Surfer-Paradies, befindet sich eine mehr als 200 Kilometer lange und bis zu 5000 Meter tiefe Meeresschlucht. Diese reicht fast bis an die Küste heran. Hurrikan EPSILON tobte über den Atlantik. Die Ausläufer des Sturms sowie eines Tiefdruckgebiets bei Grönland erzeugten ein starkes Dünungsfeld, das im Oktober 2020 auf die Küste Portugals traf. Unter anderem durch die Topographie entstand also nahe der Küste eine 31 Meter hohe Wasserwand. Sie ist aktuell die größte gesurfte Welle der Welt.

Nur einen Monat später, im November 2020 war es schon wieder soweit, jedoch in einem anderen Ozean. Ein Tief über dem nördlichen Pazifik entwickelte sich zum Sturm und zog entlang der Westküste der USA nordwärts. Am 17. November traf das Tief in Kanada auf Land und schwächte sich im weiteren Verlauf ab. Vor Vancouver Island erhob sich eine 17,6 m hohe Welle. Ein neuer Rekord, denn der umgebende signifikante Seegang war nicht mal 6 Meter hoch. Der Kaventsmann überragte also die umgebenden Wellen um das dreifache. Diese Daten wurden erst kürzlich, im Februar diesen Jahres, von der University of Victoria wissenschaftlich bestätigt (siehe Link zum wissenschaftlichen Artikel). Statistisch gesehen tritt solch eine Welle bei dem umgebenden Seegang nur alle 1300 Jahre auf. Ob wir wirklich so lange auf einen neuen Rekord in der Monsterwellenwelt warten müssen?

MSc Met. Sonja Stöckle
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 09.03.2022

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